Von der Kunst, sich zu erholen

Beschleunigung im 
Umzug. Wir leben heute in einer noch nie dagewesenen Dichte von Reizen.

 

Das Leben wird immer schneller und unüberschaubarer. Es droht Reizüberflutung. Weniger ist manchmal mehr. Kennen und nützen Sie Oasen der Erholung?

Bereits der griechische Philosoph Heraklit (535 v. Chr.) schrieb, dass das einzig Beständige die Veränderung sei. Nie war dieses Zitat aktueller als in der heutigen Zeit. Laufend müssen wir uns den sich verändernden Umständen und Gegebenheiten anpassen. Was heute gilt, kann morgen schon hinfällig sein. Die beschleunigten Veränderungsprozesse zeigen sich in allen Sektoren der modernen Gesellschaft, ob öffentlich oder privat. Der moderne Zeitgeist mahnt: Stillstand bedeutet Rückfall. Der Sozialpsychologe Alain Ehrenberg (2008) prägte in seiner Studie über die Befindlichkeit der modernen Gesellschaft den Begriff «Das erschöpfte Selbst». Er führte diese Erschöpfung auf eine zunehmende Individualisierung und Beschleunigung der modernen Gesellschaft zurück. Die renommierten Sozialphilosophen Hartmut Rosa und Charles Taylor schließen sich Ehrenberg an und ergänzen seine Ausführungen, indem sie behaupten, dass der moderne Mensch einerseits unter der Zunahme an Wahlmöglichkeiten (Multioptionsgesellschaft) leide und andererseits mit dem Siegeszug der Säkularisierung das Leben für ihn die letzte Gelegenheit sei, um zu leben, da ihm der Trost einer Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod nicht mehr zur Verfügung stehe. Rosa schreibt: «Wir wissen zwar, dass wir sterben müssen, aber wir versuchen, vor dem Sterben noch möglichst viel, unendlich viel unterzubringen.» Das gute und erfüllte Leben der modernen Gesellschaft bestehe darin, möglichst viel von dem, was die Welt zu bieten hat, auszukosten.

Mehr ist weniger

Durch die vielen technischen Errungenschaften und Neuerungen vergrößern sich automatisch unsere Wahlmöglichkeiten. Die Welt rückt näher, und der Horizont wird größer. Dank moderner Geräte (Smartphone, Tablet oder Laptop) können wir online gehen, chatten, Nachrichten schauen, shoppen oder spielen. Überall und jederzeit. Wir denken: Je mehr Optionen wir haben, desto gelungener und erfüllter ist unser Leben. Es herrscht der Trugschluss, dass ein Mehr an Auswahlmöglichkeiten Glück auslöse und wir so immer mehr Freiheit erlangen könnten. In Wahrheit fühlen wir uns aber immer erschöpfter und ausgelaugter, da unser Gehirn ein Überangebot an Entscheidungsmöglichkeiten im Schnellverfahren nicht verarbeiten kann. Zudem ist es eine schmerzliche Erfahrung für die Seele, wenn wir uns einmal für eine Sache entschieden haben, auf alle anderen Optionen verzichten zu müssen. Der Zeitgeist suggeriert uns ja laufend, nichts verpassen zu dürfen. Verzicht schmerzt mehr, als Gewinn erfreut.

Robbie Pfandl, Biel CH, M.SC. Psychologe

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